Britische Regierung führt Orwell’sche Überwachung ein
(IRIB)
Von Robert Stevens
3. November 2010
In Großbritannien will die Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten jetzt den britischen Sicherheitsdiensten und der Polizei das Ausspionieren aller Bürger erlauben, die Telefon oder Internet benutzen. Geheimdienst und Polizei sollen unbegrenzte Vollmachten erhalten, jeden einzelnen Telefonanruf mitzuschneiden, jede Email oder SMS aufzuzeichnen und jeden Besuch einer Website in ganz Großbritannien zu registrieren.
Die Pläne sind Bestandteil einer Vorlage namens “Strategic Defence and Security Review”. Darin erklärt die Regierung: „Wir werden ein Programm einführen, das die Fähigkeit der Sicherheitskräfte, Geheimdienste und Gesetzeshüter sicher stellt, innerhalb des geltenden juristischen Rahmens Gesprächsdaten zu bekommen und Kommunikationen abzufangen.“
Das ist im Grunde eine Wiederbelebung – mit einigen Modifizierungen – des so genannten Intercept Modernisation Programme (IMP), das die Labour-Regierung schon 2006 vorgelegt hatte. Die Regierung verwirklicht dieses gewaltige Überwachungsnetz, obwohl sie im Wahlkampf das Gegenteil versprochen hatte. Ihr Wahlversprechen wurde im „Koalitionsvertrag“ der neuen Regierung vom 12. Mai ausdrücklich festgehalten.
Die Entscheidung, einen die ganze Bevölkerung umfassenden Überwachungsstaat zu schaffen, entlarvt den falschen Anspruch der Liberaldemokraten als Bürgerrechtspartei. Nick Clegg, stellvertretender Premierminister, wiederholte noch bei seiner ersten Rede nach Amtsantritt der Koalition, die Regierung werde „die Internet- und Email-Aufzeichnungen der Bürger nicht speichern, sofern es nicht triftige Gründe dafür gibt“.
In Wirklichkeit arbeitet die Regierung schon seit sechs Monaten an diesen demokratiefeindlichen Plänen, seitdem sie ins Amt kam. In einem kaum bekannten und wenig veröffentlichten Dokument (“Home Office Draft Structural Reform Plan”) hat die Koalition im Juli erklärt, sie werde „Vorschläge zur Speicherung von Internet- und Email-Daten machen und notfalls die dafür erforderlichen Gesetze einführen“. Die Vorschläge sind in einer Sprache abgefasst, die George Orwell unschwer als „Neusprech“ erkannt hätte. Zum Beispiel steht das Kapitel mit den Vorschlägen unter der Überschrift: „Freiheiten und Bürgerrechte der Menschen erhalten“.
Im April 2009 kritisierte die Konservative Partei, damals noch Oppositionspartei, die Labour-Regierung, weil sie ohne Verabschiedung eines Gesetzes die europäische Regelung zur Datenspeicherung (European Data Retention Directive, EUDRD) in das britische Recht übernahm. Die heutige Innenministerin, Baronin Neville-Jones, sagte damals, sie sei dagegen das Abhörgesetzes IMP durch die Hintertür einzuführen. Heute werden laut dem Guardian die Vorbereitungen für eine „Modernisierung des Abhörens“ innerhalb weniger Wochen eingeführt.
Laut Guardian sagten Sprecher des Innenministeriums, man werde “auf den Vorschlägen von Labour aufbauen und Mobiltelefon- und Internet-Betreiber verpflichten, alle Gesprächsdaten aus Internet- und Handy-Unterhaltungen zu sammeln und zu archivieren“. Und weiter: „Die Entscheidung, das ’Big Brother’ Überwachungsmodell umzusetzen, sei getroffen worden, weil Geheimdienste wie der MI5, der Nachrichtendienst GCHQ und Scotland Yard das verlangt hätten. Sie hätten darauf bestanden, dass das Abhören von Telefongesprächen im Internet-Zeitalter unverzichtbar sei.“
Die Vollmachten, welche die Regierung jetzt vorschlägt, übersteigen alles, was in der Geschichte bisher existierte, und übertreffen selbst eine Diktatur wie das faschistische Deutschland. Damals existierte die dafür notwendige Technologie noch nicht. Ein derart umfassender Lauschangriff auf die Bevölkerung würde bedeuten, dass jeder einzelne Communication Service Provider (CSP) in ganz Großbritannien gesetzlich verpflichtet wäre, sämtliche gespeicherten privaten Daten zu sammeln und mindestens ein Jahr lang aufzuheben, damit Geheimdienst und Polizei zu allen Zeiten freien Zugriff darauf hätten. Schätzungen zufolge würden die Kosten dafür über zwei Milliarden Pfund (etwa 2,3 Milliarden Euro) ausmachen.
Der reichlich abgedroschene Vorwand, dies sei nötig, um terroristische Machenschaften aufzudecken, wurde angeführt, um die Einführung höchst undemokratischer und weitreichender Vollmachten zu rechtfertigen. Aber die Regierung machte auch rasch deutlich, dass sich diese gewaltigen Überwachungsvollmachten nicht auf terroristische Verschwörungen beschränken werden. Diese staatlichen Befugnisse werden gegen die gesamte Bevölkerung eingesetzt und jedermann kann täglich überwacht werden. In einem Artikel auf der Website Register vom 26. Oktober heißt es: „Der [Innenministeriums-] Sprecher widersprach den Behauptungen im Guardian, der Zugriff auf IMP-Daten wäre ausschließlich bei Untersuchungen im Zusammenhang mit Terrorismus erlaubt. Wie er sagte, sind diese Kommunikationsdaten sehr wichtig, um dem Rechtsstaat Nachdruck zu verleihen.“
Der Lauschangriff der Koalition auf jedermanns Internet- und Handy-Verkehr beinhaltet auch die Möglichkeit, die Bewegungen jeder Person auf den britischen Inseln nachzuvollziehen. Dennoch haben die Medien und das politische Establishment bisher kaum dagegen protestiert. Der Guardian selbst verbannte seine Berichterstattung auf die inneren Seiten. Am letzten Donnerstag brachte er einen kurzen Artikel auf Seite 19, in dem es hieß, der Information Commissioner Christopher Graham sei über die Pläne der Regierung besorgt. Grahams Sprecher sagte vor wenigen Tagen: „Der Commissioner sorgt sich hauptsächlich darum, ob das Projekt wirklich begründet sei. Auf den ersten Blick scheine es unverhältnismäßig, wenn man den aus diesen gespeicherten Daten gewonnen erkennbaren Nutzen gegen die Risiken abwäge, die es für die Privatsphäre habe.“
Graham weiß genau, was diese Veränderungen für die Einschränkung demokratischer Grundrechte bedeuten. Als er im Juli 2009 eine Antwort auf ein entsprechendes Dokument des Labour-Innenministeriums schrieb, betonte Graham: „Diese Vorschläge stellen einen Wendepunkt in der Beziehung des Bürgers zum Staat dar. Vorher hatten Geheimdienste und Polizei Zugang zu Informationen, die von den CSPs [Server-Providern] bereits gesammelt und verwahrt worden waren. Zum ersten Mal verlangt dieser Vorschlag nun von den CSPs, dass sie Informationen sammeln und bereitstellen, die sie früher nicht gespeichert hätten, und darüber hinaus, dass sie diese Informationen weiterverarbeiten.“
Grahams Kritik an den neuen Regierungsvorschlägen beschränkt sich auf ihren fehlenden „erkennbaren Nutzen“. Außerdem warnte er vor dem Plan, sämtliche zusätzlich gewonnenen Daten in einer einzigen Datenbank zu verwahren, „die von der Regierung oder einer zentralen Agentur verwaltet wird“. Als Antwort auf solche Befürchtungen versprach Premierminister David Cameron einfach, er werde mit Graham zusammenarbeiten, sobald es um die Einzelheiten des Lauschangriffs gehe.
Graham hegt zwar gewisse Befürchtungen über das Sammeln von Kommunikationsdaten der ganzen Bevölkerung, doch ist er nicht dagegen, dass die neuen Vollmachten gezielt gegen Personen eingesetzt werden, die „eines schweren Verbrechens oder terroristischen Akts“ beschuldigt werden. Er schrieb: „Wenn jemand in einer Untersuchung über schwere Verbrechen oder terroristische Akte als Verdächtiger gilt, dann ist es vollkommen vernünftig und sogar wünschenswert, dass die Behörden das Recht haben, das Sammeln weiterer Kommunikationsdaten dieser Person, und in vielen Fällen ihres Umfelds, zu erzwingen.“
Sobald der Staat einmal derart weitreichende Vollmachten genießt, die privaten Gespräche und Bewegungen all seiner Bürger auszuspionieren, gibt es keine Grenzen mehr. Der Guardian berichtet kommentarlos: „Wie das Innenministerium betont, würde der Entwurf der Polizei und den Geheimdiensten nicht den Zugriff auf den Inhalt von Emails und Textmeldungen ermöglichen. Aber er würde ihnen von Fall zu Fall Zugriff auf die Verbindungsdaten ermöglichen, wer zu welcher Zeit und an welchem Ort wen kontaktiert.“
Es besteht kein Grund zur Annahme, dass die Behörden, hätten sie denn einmal Zugriff auf diese Daten, nicht auch versuchen würden, ihren Inhalt zugänglich zu machen. [Die Bürgerrechts-Homepage] Liberty schreibt in merklich ernüchtertem Ton: „Hunderte öffentlicher Einrichtungen, nicht nur die Polizei und der Geheimdienst, können auf diese Art auf Daten zugreifen, auch lokale Behörden. Und sie brauchen sich nicht mehr an ein Gericht oder irgendein Gremium zu wenden, um Zugang zu den Daten zu erhalten. Sie können sich (entsprechend dem Registration of Investigatory Powers Act 2000) den Zugriff selbst erlauben.“
Wenn diese Maßnahmen in Kraft treten, ohne dass sich irgendein Flügel des politischen Establishments dagegen wehrt, dann steht Großbritannien an einem Wendepunkt, was die Unterhöhlung der demokratischen Grundrechte betrifft. Am Vorabend scharfer sozialer Konflikte, die auf staatlich verordnete Sparmaßnahmen und Armut folgen werden, errichtet die britische herrschende Elite das Gerüst für einen totalitären Staat."
Wieder etwas, was Deutschland`s Politik, gerne Importiert.
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